Eher durchs Wurmloch

Reisen ist mehr als nur schnell irgendwo zu sein - und kommt aus der Mode. In manchen Gegenden des Universums könnte es aber wieder Trend werden. 


Nun bekommen wir eine neue Bahnverbindung zwischen Berlin und Wien. Man könnte dann in fünf Stunden zwischen beiden Städten hin- und herreisen. Allerdings wird mit der Fertigstellung erst Mitte der Dreißiger Jahre gerechnet, weil dafür ein Tunnel durch das Erzgebirge gebaut werden muss. Ich halte diese Prognose für unrealistisch. Mit dem Bau des Berliner Flughafens wurde 2006 begonnen. Die Eröffnung war für 2011 geplant und wurde 2020 realisiert. Aber gegen eine Untertunnelung des Erzgebirges dürfte das alles ein Kinderspiel gewesen sein. Der Widerstand von ein paar hundert Brandenburgern gegen ihre Umsiedlung konnte den Flughafenbau nicht ernsthaft gefährden. Aber der Widerstand eines einzigen Erzgebirgers kann das ganze Bahn-Projekt zu Fall bringen. Das sollte man aus den Legenden um den Stülpner-Karl eigentlich wissen. 

Die „Stülpner-Legende“ lief als Serie des DDR-Fernsehens 1973 am Samstag Nachmittag und war wahrscheinlich überhaupt das erste Fernsehereignis, an dem ich als Zuschauer teilnahm. Irgendwann kam sie nicht mehr und ich wollte den Grund dafür wissen. Mein Vater meinte auf meine Frage, warum Stülpner nicht mehr kam: „Den ham se zujestülpt.“ Ich fand das schade, denn Manfred Krug hatte als Stülpner den herrschaftlichen Soldaten und Bütteln immer so schön die Mützen weggeschossen. Nun kann man sich zwar gut vorstellen, wie der Stülpner-Karl anstelle der Scharfensteiner Burg das Landratsamt in Annaberg-Buchholz belagert, was aber wegen Home-Office zurzeit wahrscheinlich komplett sinnlos wäre. Wir sehen: War das Leben als Volksheld vor zweihundert Jahren auch schwierig - heute ist es nicht unbedingt einfacher geworden. 

Nun ist Wien zweifellos eine schöne Stadt. Ich war selbst schon einmal dort und ich würde auch ein zweites Mal hinfahren. Das Schöne an einer Reise nach Wien ist ja, dass man erstmal nach Dresden fahren kann. Hat man dort genug gesehen, fährt man weiter nach Prag und bleibt eine Weile da, bis man dann eben irgendwann nach Wien kommt. Vielleicht hat man nach Prag aber auch genug und will wieder nach Hause? Es scheint nun doch so zu sein, dass das Reisen aus der Mode kommt. Man will nur noch schnell irgendwo hin. Nach Florenz. Nach Prag. Oder nach Wien. Möglichst ohne Reisen. Mir geht es ja auch so. Mein Vater würde für sein Leben gern zum Mars reisen. Ich dagegen würde ihn dort nur besuchen, wenn ich zum Abendbrot wieder zu Hause wäre. Das geht, wenn es irgendwann mal einen Tunnel durch die Raumzeit gibt. Wann der kommt, kann noch keiner sagen. Aber auf jeden Fall vor einem Tunnel durch das Erzgebirge. 

Veröffentlicht in Erzgebirge  am 22.05.2021 4:00 Uhr.

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