Unterwegs

Nach 14-monatiger Klausur wagt sich der Autor wieder unter die Menschen.


Sechs Uhr siebenundvierzig. Vor nicht ganz zehn Minuten habe ich unsere gemütliche Wohnung samt Frau und Kind verlassen. Nach vierzehn Monaten, in denen mir unser kleiner Junge nicht nur ans Herz sondern beinahe auch an den Oberkörper gewachsen ist. Letzteres wäre auch garantiert passiert, hätte ich mich nicht dazu durchgerungen, ihn in den letzten zwei Monaten stundenweise professioneller Betreuung anzuvertrauen. Dadurch entsteht ein wenig Abstand, der einen erkennen lässt, dass aus dem kleinen längst ein großer Junge geworden ist. Einer, der auch schon eine zeitlang ohne Vater oder Mutter überleben kann und der auch durchaus wissen will, was es da draußen noch alles zu entdecken gibt. 

In der Eisenbahn ist es, als wäre ich nie weg gewesen. Die Zugbegleiterin will meine Fahrkarte gar nicht sehen („Weiß ich doch!“) und informiert mich umfassend über die Modalitäten des Schienenersatzverkehrs. Dabei hat mich die Beschaffung einer entsprechenden Zeitfahrkarte nicht nur meine verbliebenen Ersparnisse, sondern auch einige Nerven gekostet. Nachdem ich am Freitag das Büro der  Verkehrsbetriebe ausfindig gemacht hatte, musste ich nämlich zur Kenntnis nehmen, dass dort nicht nur keine Zeitfahrkarten, sondern ganz einfach gar keine Fahrkarten verkauft wurden. Mir wurde geraten, es doch mal im Bus zu versuchen, wenn sich denn mal einer am Busbahnhof einfände. Ich dachte, im Bus kann man bestimmt nicht mit Karte bezahlen und fuhr zur Bank, um den benötigten Barbetrag dann in zwei Fahrradgepäcktaschen zum Bus zu schaffen. In der Bank war dann der Geldautomat außer Betrieb. Irgendwie habe ich es aber doch noch geschafft, die fragliche Summe in Bar aufzutreiben. Im Bus erklärte mir der Fahrer, er akzeptiere eigentlich nur Karten, da er so viel Bargeld nicht den ganzen Tag spazieren fahren wolle. Aber er würde eine Ausnahme machen, weil er gleich Feierabend hätte.

Nun will das teure Ding heute keiner sehen und ab nächsten Monat kann ich wahrscheinlich für neun Euro fahren. Den ersten Arbeitstag bringe ich damit rum, mich bei den neuen Kolleginnen vorzustellen, die seit meinem Weggang angefangen haben, wofür die Zeit gerade so ausreicht. Man will nicht am schon am ersten Tag Überstunden machen. Dann gehe ich durch die Stadt zum Bahnhof. Die Menschen sitzen wieder vor den Cafés draußen in der Sonne. Ich verspüre große Lust, jetzt einen Biergarten aufzusuchen und eine ausführliche Mittagspause abzuhalten. Aber ich muss mich mit Bahn und Bus auf den langen Heimweg machen, denn mein Kind wartet auf mich. Er wartet schon lange genug. Ich komme. Ich bin unterwegs. 

Veröffentlicht in Elternzeit am 02.05.2022 12:26 Uhr.

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copyright: liedersaenger 2023

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