Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab

Im August 1973 begann mein letzter Kindergarten-Monat. Ab September war ich Schüler. In der Bundesrepublik Deutschland wurde Willy Brandt Bundeskanzler und setzte sich für eine Entspannungspolitik im Kalten Krieg ein. In Chile wurde der demokratisch gewählte Präsident Salvador Allende durch einen Militärputsch gestürzt und Augusto Pinochet übernahm die Macht. In den USA endete der Vietnamkrieg und die Watergate-Affäre erschütterte das Vertrauen in die Regierung. Nichts davon habe ich mitbekommen. Nur dass Walter Ulbricht gestorben war, das war mir nicht entgangen. Im Foyer meines LEW-Betriebskindergartens hing ein Bild des nun verstorbenen Staatsratsvorsitzenden, unter dem wir uns versammelten und die Kindergartenleiterin erzählte uns vom Genossen Ulbricht und seinen Großtaten für unsere junge Deutsche Demokratische Republik. Aber trotz dieses tragischen Verlustes und der Tatsache, dass alle anderen Kinder die ich kannte, viel bessere Spielsachen und ihre Eltern bessere Fernseher und Autos beziehungsweise überhaupt ein Auto hatten, war ich doch ein fröhliches Kind und blieb, was Politik und Weltgeschichte betraf, doch reichlich unbekümmert. Dass etwas mit unserem schönen Planeten nicht so ganz in der Ordnung war, erfuhr ich erst viel später in der Jungen Gemeinde.
Diese Unbekümmertheit hätte ich heute gern wieder. Ich benötigte zwar sehr dringend einen eigenen Kassettenrecorder und Hörspielkassetten wie „Ali Baba und die 40 Räuber“. Dafür riss ich mir Wimpern aus und blies sie fort, insgeheim und ganz fest wünschend. Einmal durfte ich dann Rogers (sprich: Rotschers) Kassettenrecorder ein paar Tage lang (oder nur ein paar Stunden?) ausleihen und bekam auch seine Kassetten dazu. Ich war glücklich. Aber mehr war nicht drin. Einen eigenen Kassettenrecorder bekam ich nie. Aber das war eben auch nie ein Problem, mit dem ich mich abends in den Schlaf geweint hätte.
Mit dem Schulanfang begann jedoch nach und nach die Erkenntnis zu reifen, dass dieser wunderbare Planet eben auch von Arschlöchern bewohnt wird. Wer dann auch noch erkennt, dass daran nichts zu ändern ist, hat schon viel begriffen. Doch auch die Arschlöcher haben ihre Bestimmung: sie sind dazu da, zu erkennen, dass man selbst kein Arschloch ist und auch keins werden will. Sie sind ein Kompass, der in die Richtung zeigt, in der wir auf keinen Fall unterwegs sein wollen. Mehr gehen sie uns nicht an. Dass sie uns beherrschen und die Welt regieren wollen, liegt in ihrer Natur. Sie sind zu bedauern, denn sie finden ihre Ruhe nicht. Aber helfen können wir ihnen nicht. Im Übrigen wird die Welt auch kein besserer Ort, weil wir in ihr leben. Wenn wir aber nur einen Menschen finden oder zwei und auch drei, die wir lieben und an die wir unser Leben verschwenden können - dann sind wir gerettet.
Veröffentlicht in Weltgeschichte am 04.08.2023 18:00 Uhr.