Hemmschuh und Bremsklotz

Hemmschuh und Bremsklotz

Das Wort „Schienenersatzverkehr“ triggert nicht nur die Rechtschreibprüfung. Es ist die Antwort der Bahn auf unser Bedürfnis nach einem reibungslosen Alltag.

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Wenn man schon zwei Stunden jeden Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit unterwegs ist, könnte man doch schön in der Bahn so dies und das erledigen. Aber die Bahn wäre nicht die Bahn, wenn Sie bei der Störung und Behinderung des Alltagslebens halbe Sachen machen würde. „Hemmschuh“ und „Bremsklotz“ sind schließlich Begriffe, die aus dem Bahnbetrieb stammen. Nein, das Umsteigen in den Schienenersatzverkehr und wieder zurück ermöglicht keine andere Beschäftigung, als tatenlos aus dem Fenster zu gucken. Trotzdem lassen sich doch einige interessante Beobachtungen machen. Es gibt nämlich nur auf einer Seite der Bahnanlage eine Wendestelle für den Bus. Manchmal steht der Zug aber aus Gründen, die sich dem Außenstehenden nicht erschließen, auf dem gegenüberliegenden Gleis. Man müsste jetzt den Weg, den man gerade mit dem Bus gekommen ist, ein ganzes Stück zurücklaufen, eine Brücke überqueren und käme dann erst am anderen Gleis an. Der Mensch scheint nun aber so beschaffen zu sein, dass er sich immer den kürzesten Weg sucht. Außerdem entsteht so etwas wie Schwarmverhalten, bei dem Überzeugungen und Einstellungen des Individuums einfach überschrieben werden können.

So wälzt sich dann also ein beachtlicher Schwarm von Businsassen zu dem nächstliegenden Gleis, an dem aber gar kein Zug steht. Hier kommt der Fluss der Bewegung kurz ins Stocken, bis der erste – hopp – hinunter in die Gleise springt, diese überquert und drüben wieder herausklettert. Das machen dann alle so, ob alt der jung, ob mit Gepäck oder ohne. Spontan entsteht Solidarität und sogar Kinderwagen werden gemeinsam übers Gleis getragen. Hält der Zug auf dem Rückweg auf dem falschen Gleis, steht meistens noch kein Bus da, so dass der Schwarm sein Ziel nicht direkt vor Augen hat. Wenn dann eine kurze Ansage erfolgt, der Weg zum Bus führe über die Brücke, latschen alle los und gehen klaglos und zielstrebig den langen Weg, auch die, die am Morgen über die Gleise gekommen sind. Wollte man also verhindern, dass sich jemand im Gleis die Haxen bricht, müsste wahrscheinlich nur der Busfahrer eine Ansage machen, dass der Weg über die Brücke führe. Wenn dann die ersten in Richtung Brücke losmarschieren, wäre der Drops gelutscht.

Über solche Zusammenhänge denken Busfahrer aber nicht nach und Gleise gehen sie sowieso nichts an. Ich denke als Schwarmmitglied natürlich auch nicht und wenn ich nach zwei Stunden endlich zu Hause ankomme, spute ich mich, mein Söhnchen endlich aus dem Kindergarten auszulösen. Dem scheint es jetzt dort richtig gut zu gefallen. Er denkt gar nicht ans nach Hause fahren, sondern will mir alle Spielgeräte im Außengelände zeigen und auch mit mir dort spielen. Nach dem ich ihn zwei Monate gegen heftigen Widerstand dort zurückließ, trage ich ihn nun gegen seinen lautstark ausgedrückten Willen von dort ab. Meine Oma hat immer gesagt: „Die Erde dreht sich!“ Und mir ist längst klar: „Dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war.“