Wieder nach zu Hause gehen

Vielen Menschen kommt im Laufe ihres Lebens die Zukunft abhanden. Kinder haben aber meistens mehr als genug davon. 

Eigentlich haben wir schon wieder Fahrradwetter. Wobei die Verwendung des Wörtchens „eigentlich“ aber schon den Hinweis darauf enthält, dass es mit dem Radfahren eher doch nicht so weit her ist. Im Erzgebirge besteht das Problem darin, dass man entweder bergab fährt, was die Bremsen nicht lange mitmachen, oder bergauf, was einem unabhängig von der Kondition die Knie nicht lange verzeihen, wenn man sie sich beim Berg runterrennen kaputt gemacht hat. Man könnte jetzt mit dem Fahrrad zum Kindergarten fahren, wenn der Berg nicht wäre, auf dessen Gipfel sich die Kita niedergelassen hat. Aber selbst dann bestünde noch die Schwierigkeit, dass ich über die Querstange aufsteigen müsste, wenn der Kindersitz über dem Gepäckträger hängt. Mit bereits aufgesatteltem Kind wird die Schwierigkeit zur Unmöglichkeit. Also gehe ich weiter zu Fuß mit Kinderwagen.

Im Kindergarten haben sie jetzt offenbar genug von mir. Diese Herumlungerei muss ein Ende haben. Eine Mutter hätte sich schon längst irgendwie nützlich gemacht oder wäre wenigstens schon mal einkaufen gegangen. Ich soll jetzt „einfach mal fortmachen“ und erst zum Abholen wiederkommen. Außerdem herrscht ein bisschen Personalmangel und die Chefin muss Hand anlegen und kann sich nicht auch noch um mich kümmern. Schließlich ist das hier ein Kindergarten und kein Biergarten. Also lasse ich mein unglückliches Kind zurück und trolle mich ins nahe Kaufland, um beim Bäcker einen Kaffee zu trinken. Wie kann man sein weinendes Kind ohne Not fremden Menschen überlassen? Mit hängenden Schultern und gebrochenem Herzen steige ich allein den Berg wieder hinab, den wir eben noch lachend und scherzend zu zweit erklommen haben. Ja, ginge er genauso fröhlich hinein, winkte mir zum Abschied und riefe mir ein zuversichtliches „Glück auf“ hinterher – wie leicht könnte ich fortgehen. Aber so?

Beim Kaufland-Bäcker sitzen eine Frau und ein Mann, die bei einem Becher Kaffee die weltpolitische Lage auswerten. Der Mann sagt, ihm täten die Kinder leid, die heute aufwüchsen. Sie hätten keine Zukunft. Ein kurzer Seitenblick auf den Mann verrät mir, dass er es ist, dem die Zukunft abhanden gekommen ist. Das ist zwar auch traurig, stimmt mich nach dem ersten Schreck aber wieder ein bisschen froher. Ich trinke meinen Kaffee aus und laufe zurück zu meinem Kind, während ich mir dessen Zukunft in den leuchtendsten Farben ausmale. Der staunt nicht schlecht, dass ich heute von draußen komme und nicht wie sonst drinnen sitze. Aber egal. Hauptsache, ich komme. Und Zukunft heißt heute erst mal: Wieder nach zu Hause gehen.